Leer sein.
Du weißt nicht, wie es mir geht. Nicht im Geringsten.
Du magst auch viel durch gemacht haben, hast viel hinter dir gelassen.
Viel verloren, viel gewonnen, mehr daraus gemacht.
Das freut mich für dich, ehrlich.
Und trotzdem hast du keine Ahnung, wie es mir geht, wie mir in dieser Sekunde zu Mute ist.
Denn du hast nicht das Gleiche erlebt wie ich.
Jeder ist eigen, alle sind verschieden, überall verlaufen Probleme anders.
Ich bin leer, bin erschöpft, ausgeschöpft von meinem Alltag.
Meine Seele schon fast ein Geist, mein Körper eine materielle Hülle.
Das Leben, mein Gewissen hat an mir genagt, bis ich weggeknickt bin.
Bis ich nicht mehr standhalten konnte.
Diesem inneren Druck. Diesem Gefühl, dass sich in mir breit gemacht hat.
Angst.
Angst, alle zu enttäuschen. Mich, dich, alle.
Ich fühle mich wie verprügelt,
jedes Gefühl aus meinem Körper gejagt.
Und deshalb kann ich nicht mehr. Nicht mehr aus mir rausholen. Ich bin leer.
Aber du sagst mir ‚Steh auf, mach weiter, gib nicht auf!‘
Du willst mich mit deinen Worten hochziehen,
neu aufbauen, zu alter Freude zwingen.
Und das ist ja alles schön und gut, aber ich weigere mich.
Ich will keine Maske aufziehen.
Ich will ehrlich sein, denn Unehrlichkeit hat mich am meisten zu Fall gebracht.
Und wenn man anfängt ehrlich zu sein, darf man sich nicht selbst belügen.
Denn das ist am Schlimmsten.
Und ich sage mir die Wahrheit ins Gesicht,
so weh sie auch tut.
Ich kann nicht mehr. Nicht mehr aus mir rausholen. Ich bin leer.
Und du meinst ‚Gib dir einen Ruck, ich habe es doch auch geschafft.‘ Was wirklich gut für dich ist.
Aber das gilt nicht automatisch für mich.
Ich bin anders und kaputt,
und in deinen Augen wahrscheinlich stur und dumm, dass ich dir nicht glaube.
Dass ich nicht an mich glaube.
Aber ich bin nun mal nicht du, sondern ich.
Ich habe meine Gedanken, meinen Körper, meinen Willen.
Und die sagen mir, ich kann nicht mehr. Nicht mehr aus mir rausholen. Ich bin leer.
Und bis ich es besser weiß, kannst du mir noch ganz oft erzählen, wie du da heraus gekommen bist, aber das geht an mir vorbei.
Denn bis die verschwundenen Puzzleteile wieder auftauchen, bin ich gebrochen
Habe Lücken und finde keine Stabilität.
Diese Puzzleteile, die muss ich selber finden,
wenn ich Kraft habe,
wenn ich will.
Und ich bin mir sicher, dass ich das eines Tages schaffen werde,
wie du, und wie alle anderen, und trotzdem auf meine Weise.
Wenn ich genug Zeit hatte.
Und auch wenn ich gerade hoffnungslos klinge und deine Hilfe abweise,
weiß ich, dass jeder sich hoch ziehen kann.
Zu einem letzten Versuch, alle Kräfte zusammensammeln,
Aufstehen, ein paar Schritte gehen und sehen, ob man das Gleichgewicht halten kann.
Und es mag schwer klingen und das ist es,
aber das Leben ist nun mal nicht einfach,
und aufgeben gilt nicht.
Aber man darf sich selbst auch mal kurz ausruhen.
Liegen bleiben.
Bis man genug Kraft gesammelt hat, um aufzustehen.
Und bis dahin brauch ich von alledem nichts mehr hören.
Denn ich darf auch mal nicht mehr können. Nicht mehr aus mir rausholen.
Mal leer sein.




theluckyone am 05.Jan 15  |  Permalink
Ich hoffe, "DU" bin nicht ich.
Sehr schöner Text, aber er macht mir auch irgendwie Angst.

naturfreude am 05.Jan 15  |  Permalink
Manchmal ...
gilt es, die Krise, egal wie lange sie dauert, alleine zu durchwandern.

Dein Text hat mich sehr berührt - danke!

Kennst Du den folgenden, von Franz Kafka ? Ich erhielt ihn mal in einer Situation geschenkt, als es mir - vielleicht - ähnlich erging wie Dir:

"Du must gar nichts tun,
bleib einfach an deinem Tisch sitzen und lausche.
Lausche noch nicht einmal, warte einfach.
Warte noch nicht einmal, sei einfach ruhig still und allein,
und das Universum wird sich dir erschließen.
Es hat keine Wahl. Es wird dir in Ekstase zu Füßen rollen."

thegreenintherainbooow am 05.Jan 15  |  Permalink
Den Text von Kafka kannte ich nicht, aber er passt wirklich gut :) Dankeschön

naturfreude am 05.Jan 15  |  Permalink
:)
Sehr gern geschehn.